Henrihorst Pachulke musste sich entscheiden: Tat er etwas völlig irrationales, neues und abwegiges? Oder machte er das , was er immer machte – vernunftbegabt abwägen und sachlich entscheiden? Also es hing ihm zum Halse raus und die Macht der Gewohnheit lockte ihn irgendwie nicht mehr. Was war passiert? Er war verliebt! Folgende Ausgangssituation:
Vor einem halben Jahr hatte Henrihorst eine Frau kennengelernt; besser: sie ihn. Eine umwerfende Person jedenfalls, handlungsstark einerseits und fordernd, hintergründig und hilfsbereit auch. Mitten im Leben stehend und doch irgendwie selbstbewusst einsam, Tendenz kompliziert. Der Typ „Wo steht das Pferd, ich klau es uns! Weil ich kann reiten…“ vielleicht. Pachulke konnte nicht reiten und das machte ihm ein wenig Angst, naja. Also diese Frau nun, nach Monaten voller Entwicklung, Erbauung, Überraschungen und Lust zu zweit, wurde kurz nach Weihnachten schwer krank. Es kam hierbei mehreres zusammen und nur ein Spital noch in Frage. Allerdings wurde da kein großes Drama gemacht – offensichtlich gab es Erfahrung und die tolle Frau wirkte souverän. Aber – souverän im Krankenhaus? Bei Schmerzen, unklarer Diagnose und vor allem: alleine? Pachulke merkte in sich eine zarte Kraft aufsteigen und beschloss, DA zu sein. Und nahm seine Sinne zusammen, um innerhalb eines kurzen konzentrierten Ratschlages mit sich selbst dann doch diese Pflicht zu untersetzen mit NEUEM. Pilgerte also am Silvesterabend nach Buch ins Riesenkrankenhaus und schlich männlich auf das Zimmer seiner Teuersten; um sie dort hocherfreut zu finden neben 2 weiteren hocherfreuten Bewohnerinnen. Beide betüdelten sich auf den leeren Gängen, bedauerten ein wenig nur die skurrile Situation auch, schwätzten munter und versicherten sich einer allgemein glänzenden Zukunft, was den gesundheitlichen Bereich betraf. Irgendwann musste die Patientin allerdings für ihre Nachtruhe oben in der 312 einchecken (es ging auf 22 Uhr) und Henrihorst Pachulke setzte nun seinen Plan um: Geschwind einen latenten Herzinfarkt vortäuschend in der Notaufnahme, fand er nach einigen gezielten und erfolglosen Untersuchungen Platz im Keller des Gebäudes. Hier lagen die „unklaren Fälle“ – also wo kein Geld verschleudert werden sollte (der Haus-Etat bei den Helios-Unternehmern war schon seit 2 Wochen überzogen sicherlich) und gleichwohl ein halbes träges Zyklopenauge draufzuschauen hatte (aus Versicherungs- und hippokratischen Belangen). Er war also „drin“, in der Nähe seiner Angebeteten zumindest. Das, so empfand er in einem Anflug von Selbstgerechtigkeit, war das Mindeste, was zu tun war.
Es war bald Mitternacht, vollkommen ruhig und steril in der von ihm belegten Abteilung. Eine Art Friedhofsvorhof und einzig Frau Krawellek neben ihm nahm und musste wohl auch ganz offensichtlich die Dienste der Pflegeschwestern in Anspruch nehmen. „Mein Bein, ich kann mein linkes Bein nicht hochheben. Ich bin 85 Jahre und kann mein Bein nicht heben!!“ Die Arme. Mit einer gewissen Betriebsblindheit, man sollte meinen Erfahrung, wurde Frau Krawellek ignoriert, so gut es eben ging unter ethischen Gesichtspunkten. Die zählte nicht; niemand zählte. War ja auch nicht zumutbar, schließlich war Silvester. Pachulke seinerseits fand gleich gar nicht statt, kein einziges Mal wurde er gefragt, was beispielsweise seine Herzrhytmusstörungen so machten. War er als Simulant durchschaut, applaudierten ihm gar die Schwestern still zu seiner großartigen Idee, in der Nähe seiner Freundin geblieben zu sein? Egal, ihm war es recht so. Ein eigenartiges Ruckeln durchquerte seine Brustgegend… Frau Krawellek fing an, zu „stören“, hörte nicht auf mit ihrer Klagerei und Henrihorst bedauerte sie mittlerweile sehr – hatte er doch stark den Eindruck, dass SIE NICHT simulierte. Ein pflegender Mann wurde hinzugezogen: „Wir können sie sedieren. Müssen wir sogar, weil 10 vor 12 wollen wir doch alle auf dem Dach sein!“ Frau Krawellek hinter den Laken, 2 Meter neben Pachulke, wurde sediert. Zack, eine Form von gemäßigter Diktatur, sehr praktikabel.
Er selbst hatte nun Zeit, in aller Ruhe seinen Gedanken nachzuhängen. Würde das Fieber seiner Gefährtin oben sinken, konnte sie gut schlafen hoffentlich? Was würde aus ihnen beiden werden? Taugte das für eine stabile Beziehung? Henrihorst Pachulke, so erfahren, wie ein Mann nur sein konnte mit 45, sagte sich messerscharf: Wird schon.
Es kam Bewegung ins Objekt, dreiviertel 12. „Losloslos, alle hoch, wir wollen das Feuerwerk sehen und anstoßen!“ Alle vorhandenen Angestellten -also unterbesetzt sähe anders aus- rauften sich zusammen, sortierten Zigaretten, Schampus und Uhren und strahlten eine großartige Aufgeregtheit aus. Die Krawelleksche schlummerte stöhnend, Henrihorst fühlte sich nicht mehr ganz so fremd, sonst war kaum was los; und dann wurde er ausgesprochen, der Satz wie ein Donnerhall: „Vülle ßeit is nich, lass uns Stößchen machen, weil denn kommˋ erst die Korken, dann die Feuer, dann die Schläger.“ Abtritt Personal. Wer jetzt hier, sagen wir mal einen Herzinfarkt hätte, bliebe auf der Strecke – das Dach war voll. Mitternacht, Prost Neujahr, allet Jute usw. Entfernt hörte Pachulke die Bucher böllern, er rutschte einsam ins Jahr 2017 hinüber, ohne Zeugen, quasi auf der Bahre. Nicht unangenehm, aber leicht morbide und nekrophil. Für etwa 5 Minuten wurde inoffiziell die Zeit angehalten; er hatte den Eindruck einer totalen Schwebe, ein Nichts dominierte seinen Cortex und wie unter einer Glaskugel heraus schaute er auf die Welt. Dann war es 5 nach 12.
Das neue Jahr begann wie von den Auskennern prophezeit: Wie auf Bestellung verkeilten sich draußen die ersten Rettungswagen ineinander – „Korken zweimal Auge rechts, einmal links, schnellschnell!“ Verunfallte wurden nun hereingeschoben, wimmernde Männchen meist, denen ihre Unaufmerksamkeit vorhin beim phallischen Öffnen der Rotkäppcheneulen gerade klar wurde. Katastrophenalarm! Nun reihten sich Jene an, welche nicht mehr den größten Überblick gehabt hatten im Umgang mit Gefahrenstoffen, hier: Feuerwerkskörpern. Abgerissene Finger und taube Ohren, explodierte Raketen am Kamin, Wunderkerzen in Kinderhosen – das komplette Programm! Wuhling nun, Stress um ihn herum allethalben, Henrihorst alleine schirmte sich ab und dachte an „Sporting Mutante“. Sie würden sich eventuell sehen dieses Jahr mit der Ü30 Kleinfeld von „Traktor Boxhagen“: Sollte Tinto nicht absteigen und Tante Mu wiederum aufsteigen, träfe man sich zu neu aufgelegten historischen Duellen im „Schönen Hauffgrund“ und bei „Wutzkys“. Alte Schlachten spulten sich vor seinem geistigen Auge nun ab und immer wieder wurde ihm klar, wie sehr doch der kleine Freizeitballtreterverein, dem er angehörte und für den er selbst früher gespielt hatte, von den Männern um Kiwi aus Rudoff gelernt hatte damals: Konzentration, Kuhlness, Fairness, unbedingter Einsatz. Goldene Zeiten, in denen der Initiationsritus der Traktoristen gelang und welche immer wieder hervorragende Kämpfer im weinroten Kostüm hervorgebracht hatten, bis heute.
Es war laut geworden inzwischen, es ging auf halb 2 zu und mittlerweile wurde er brachial hin- und hergeschoben. Alle verfügbaren Räume und Gänge waren voll geworden, Schwerverletzte sammelten sich um ihn herum, meist durchalkoholisierte Knalltüten, die eine handfest ausgetragene Familienfehde oder unklare Konstellationen auf der Straße mit anderen Geistesabwesenden einer gemütlichen Schwooferei vorgezogen hatten. Mit nämlichen Resultat, dass Henrihorst Pachulke langsam ein schlechtes Gewissen bekam: erhaschte er doch nun immer öfter die schrägen Blicke der Schwestern und Ärzte – Marke: „Vogel, wir brauchen deinen Platz, du Nichtsnutz unglaubwürdiger.“ Tatsächlich häuften sich nun die Stich- und Schussverletzungen. Blut allüberall, Geschrei, es ging um Leben und Tod. Zufällig fiel ihm der letztens verstorbene russische Clown Oleg Popow ein. Und Bowie und Fidel.
Pachulke gab langsam auf. Die Situation hatte ihn überzeugt, er war hier fehl am Platze. Zwar mochte er nicht seine Gefährtin oben im Stich lassen und mittlerweile war er selbst stark von vorhandenen Herzproblemen überzeugt, aber spätestens jetzt mit dem Rauswurf von Frau Krawellek („Da ist jetzt ihr Taxi!“) kapitulierte er vor der komprimierten Absurdität in der Rettungsstelle des Krankenhauses Berlin-Buch. Um halb 4 checkte er aus, niemand hatte nach den Gründen seiner Selbstentlassung gefragt. Henrihorst durchschritt leicht schwankend das Vestibül der Einrichtung und trat in das eiskalte Neue Jahr. In der Ferne war der Ort, hier war weite brandenburgische Steppe. Er schickte noch einen „Bling“ Richtung 3. Umgebinde und machte sich entschlossen auf den Weg nach Boxhagen. Dachte an seine Freundin und seinen Verein, in dieser Reihenfolge – es handelte sich jeweils um Liebe. Und er hatte diese Nacht etwas Neues, Irrationales und Abwegiges getan und war nun bereit für die normale Zukunft.