Nebelschwaden und eisige Winde in der Arena im Marzahner Zentrum. Der imposante Fußballtempel mit seinen elfstöckigen Rängen bietet den angemessenen Rahmen für den heutigen Pokalklassiker. Der wahre Fußball gehört den Leuten, Steh- wie Sitzplätze sind eintrittsfrei zu ergattern.
Auf dem Papier mag das Duell mit den wacker um den Klassenerhalt kämpfenden Ostberlinern dazu verleiten, von den jüngeren Traktoristen auf die leichte Schulter genommen zu werden. Zu Unrecht. Wissen doch Feldarbeit-Veteranen um die glorreiche junge Vergangenheit RBCs mit dominanten Ligatiteln und einer uneinnehmbaren Heimfestung. In der modernen Geschichte des Fußballs ist es noch keinem Traktoristen gelungen, hier Punkte zu entführen. Unvergessen auch das Amateurfußball Tor des Jahres des RBC Fernschusskünstlers mit anschließendem Torwand-Duell gegen den Titan namens Scholler. Inspiration für viele, zweifelsohne auch die Sphinx, die dies kurz vor der Halbzeitpause unter Beweis stellt.
Doch alles zu seiner Zeit. Tinto kann die Verletzungsmisere mit vereinsinternem Zusammenhalt, shout-out an Max von der Ü30 an dieser Stelle, ausgleichen und dankenswerterweise mit 3 Auswechselspielern aufwarten. Starting eleven: Gattuso in seiner formvollendeten Reinkarnation Krake zwischen den Pfosten, Viererkette aus der gefährlich aufspielenden Sphinx, dem unfehlbaren Ackerdemiker, dem engagierten Jakob und dem bissig ackernden Manne. Die Mittelfeldzentrale wird standesgemäß und wie gewohnt von Herrn Albrecht regiert, umsponnen von der agilen Grinsekatze und dem ballsicheren Erik. Flügelzange aus dem flinken Gui und der nimmersatten Maschine. Vorne drin pfiffig lauernd De Bräune. Hinzugekommene später: Zar, Max und Tim.
Traktor beginnt beherzt und kontrolliert. Schlicht und effektiv gen Strafraum der Marzahner Mannen, muss der starke RBC Keeper seine 2 Meter das ein und andere Mal strecken. Auf dem Platz herrscht ein ruppiger Umgangston und forscher Einsatz. Lobend zu erwähnen an dieser Stelle der abrupt kameradschaftliche Umgangston beider Mannschaften nach dem Abpfiff, so geht sportlicher Wettkampf. Tadelnd zu erwähnen die nicht abreißenden Schimpftiraden des neongrünen Rechtsverteidigers gegenüber dem souverän aufpfeifenden Referee. Hier ist Dankbarkeit oder zumindest ein angemessen respektvoller Umgangston gegenüber dem sportlichen Ehrenamt wünschenswert. Doch muss man dem frustrierten Kicker zu Gute halten, dass ein 90-minütiges Ringen mit der Maschine schon die gestandensten Charaktere in die Weißglut trieb. Ein schlicht aussichtsloses Unterfangen, den links außen ackernden Feldarbeiter zu bändigen.
Mit der Zeit scheint Traktor ein wenig den Faden zu verlieren, RBC gewinnt an Stärke und Überzeugung. In einer kurzen Sturm und Drang Phase gelingt den Hausherren die Führung. Sind bei zwei Versuchen noch Beine und Handschuhe im Wege, kann bei der darauffolgenden gefühlvollen Flanke mit fachgerechter Kopfverwertung kein Traktorist mehr etwas ausrichten. 1:0 und den Veteranen schwant Böses, die Heimmacht ist doch nicht etwa erwacht? Mitnichten! Traktor schlägt mit Eiseskälte zurück. De Bräune harrt behände an der Grenze des Erlaubten und läuft aufgrund zeitlich perfekter Zuarbeit allein auf den Keeper zu. Der maßgeschneiderte Abschluss schallert vom Innenpfosten in die Maschen. Tinto fortan am Drücker. Nach einer Ecke findet die Pille ihren vorbestimmten Pfad zur Sphinx, die das Ding ohne Zögern aus der Luft gen Winkel zimmert. Ein neongrünes Bein noch dazwischen, sodass der ohnehin schon mit schlechten Chancen dastehende Keeper nur noch bewundernd hinterherschauen kann. Spiel gedreht, Tor des Jahres 2022. Nachlegen können die angereisten Mannen trotz bunter Chancenvielfalt bis zur Pause nicht. Besonders hervorzuheben die unglaublichen Reflexe des Heimgoalies gegen den sich geschickt freistellenden Max.
Nach der Halbzeit wieder ein ausgeglichener Schlagabtausch. Angehaltener Atem der mitgereisten Fans bei aussichtsreichem Freistoß für RBC in zentraler Position. Erinnerungen an den torwandschießenden Teufelskerl Scholler flackern auf. Einer seiner best Buddies, Artjom drischt das Leder beinahe unhaltbar gen rechtes oberes Eck. Beinahe. Die Pranke der Krake erscheint in übergreifender Pracht und deflektiert das Geschoss zur Seite.
Die Glanztat ist ein Wegruf für Tinto und die Auswärtsfahrer ehren die alte Volksweisheit: „Vorbeugen ist besser als auf die Schuhe kotzen.“ So nimmt sich Gui ein Herz und flankt die Pille behände auf den wie schon zuvor überlegt einlaufenden Max, der nun endlich vollstreckt. Auch der in orange strahlende Hühne ist diesmal machtlos. Die Maschine macht mit einem ihm typischen unaufhaltsamen Solo den Sack zu. Später versucht es De Bräune noch mit einem schlitzohrigen Schlenzer, doch alle weiteren Angriffsbemühungen bleiben ergebnislos.
Tinto schreibt an diesem kalten Dezembertag Geschichte und erringt ein historisches Ergebnis. Der erste Sieg auf dem fein geschorenen Marzahner Rasen gegen tüchtig ringende Neongelbe in schönster Kulisse. Dank für das Fußballfest gebührt dem einköpfigen Schiedsrichtergespann sowie dem Ostberliner Gastgeber.
Am kommenden Samstag wartet wieder Ligaalltag auf. Restplätze für die Fanbusse zur Auswärtsfahrt an die Wiener Straße sind nicht verfügbar. Lassen Sie, lieber Leserin, sich dennoch nicht entmutigen und kommen Sie in Scharen zum Bewundern des Spiels der Freiheit, der Visionen und Gefühle.
Es grüßt aufs Herzlichste,
Ihr Filou“